Was macht mein Leben lebenswert?
- Anja Herzog
- 4. Okt. 2016
- 4 Min. Lesezeit

Eine Angst, die die Menschen über Jahrhunderte, über verschiedene Epochen hinweg beschäftigt, ist die Angst vor dem Tod. Der Tod definiert in einem Satz als das irreversible Erlöschen aller lebenswichtigen Körperfunktionen und ist durch den Prozess des Sterbens gekennzeichnet. Dies umfasst nicht die Komplexität des Begriffes!
Die verschiedenen Auseinandersetzungen in den Epochen zeigt die Variation der Definitionen im Zusammenhang der gesellschaftlichen Konventionen. Hierbei bezieht sich Gesellschaft auf die Bereiche, die global erfasst wurden / werden, z.B in der Ottawa Charta – Gesundheit für alle oder Gesundheit 21.
Die Beantwortung der Frage lässt sich nicht in einem Satz definieren und auch nicht als geschlossene Frage stellen, auf die es nur eine Antwort auf zwei Auswahlmöglichkeiten gibt. Die Fragestellung, was bezugnehmend auf das Leben zu stellen gilt:
Was macht meinen persönlichen Qualitätsanspruch an das Leben aus? Was gestaltet mein Leben lebenswert? Welche Bedürfnisse und Bedarfe besitzen für mich oberste Priorität?
Diese unterliegen verschiedenen Verläufen und können evaluiert werden, um mit den neuen Ressourcen und Probleme umzugehen. PFLEGEPROZESS - als Pflege anderer und der persönlichen.
An einem der exestentiellen Bedürfnis, dem Bedürfnis nach Nahrung, gebe ich Ihnen ein Beispiel des Stellenwertes im Sterbeprozess.
Im volkstümlichen Terminus, heißt es: Essen hält Leib und Leben zusammen! Wer nicht isst, ist krank und wer krank ist, isst nicht. Die daraus resultierende Schlussfolgerung: Der Mensch, der diesem Grundbedürfnis nicht Folge leistet, muss sterben.
Der Mensch, der sich gegenwärtig im Sterbeprozess befindet und verschiedenen Phasen der Trauer durchläuft, kann ein Drängen nach Essen als zusätzliche Belastung empfinden. Die Fragestellung, die in diesem Zusammenhang auftritt: Welchen Stellenwert hat die gemeinsame Nahrungsaufnahme und was macht dies in der Grenzsituation mit allen Partizipierten ( z.B. Angehörigen oder Professionen aus dem Gesundheitssektor)?
Essen besitzt den Stellenwert des Gemeinsamen, des Genusses, der sozialen Interaktion – dem Zusammentreffen, ob in Familie, Beruf um sich über Befindlichkeiten / Belange / Erwartungen / Tagesgeschehnisse auszutauschen.
Kann ein Mensch aufgrund seiner eingeschränkten Befindlichkeit diesem Bedürfnis nicht mehr nachkommen, stellt sich ein Hilfebedarf ein z.B. im Nahrung anreichen, dem „Füttern“. So kann das soziale Umfeld, aktiv am Prozess der schwindenden Kräfte des Betroffenen, teilnehmen. Sie helfen ihm bei einem essentiellen Bedürfnis. Wie verhält es sich allerdings, wenn der Jenige die Nahrung verweigert, aufgrund von Inappetenz – Appetitlosigkeit, ausbleibendes Hungergefühl. Er empfindet dies als zunehmende physische, psychische und soziale Belastung. Er isst, nach langem Bitten durch die Angehörigen, doch einige Bissen. Obwohl es ihm im Anschluss schlechter geht. Er möchte sie nicht verletzten in ihrer Fürsorge und ist dankbar für ihre Unterstützung. Er erbricht heimlich oder in Anwesenheit. Die Angehörigen werten dies als Nebenwirkung der vielen Medikamente, die er zu sich nimmt. Weitere Symptome, die begleitend auftreten – Defäkationsstörungen, Nausea, Emeses. Diese weisen bereits auf eine gestörte Nährstoffverwertung hin. Der Energiebedarf des Betroffenen ist pathologisch, was zu einer Kachexie führt.
Irgendwann presst der Jenige die Lippen zusammen, öffnet den Mund nicht mehr, dreht den Kopf zur Seite, vermeidet Augenkontakt oder nimmt eine abwehrende Haltung ein. Schlägt die Hand bei Seite, schreit, spuckt…. Denn wie soll er sich denn sonst äußern, dass er es leid hat und dies nicht mehr erwünscht!
Nach einer Zeit der absoluten Verweigerung stellt sich der Wortlaut ein:
Wir können Ihn doch nicht verhungern lassen?!
Wenn er nichts isst, stirbt dieser Mensch. Mit dieser Angst gehen die partizipierten Angehörigen zu Freunden / Bekannten um dies zu berichten. Sie erhalten den Ratschlag mit dem Arzt ins Gespräch zu gehen und bereits im Vorfeld Informationen im WORLD WIDE WEB zu generieren. Dr. Google weiß alles! Weiterhin teilen die Freunde folgenden Wortlaut: Dank des medizinischen Fortschrittes besteht doch derzeit die Option eine PEG, einen Port oder eine Infusion legen zu lassen. All dies ist möglich! Sein gesundheitlicher Zustand wird sich erholen und bestimmt isst er nach einiger Zeit wieder selbständig – mutmaßlich.
Parenterale Ernährung als Kompensation der therapeutischen Hilflosigkeit!
Wie verhält es sich, wenn er sich nicht erholt und die schwindenden Kräfte nicht zurückerlangt werden?
Die Vitalzeichen sich zunehmend verschlechtern, d.h. die Atem- und Herzfrequenz ändern sich im Rhythmus, in der Intensität, setzen aus! Ist hierbei im weiteren Vorgehen eine künstliche Beatmung angebracht, das Infundieren von kreislaufstabilisierenden Medikamenten – die komplette medizinische Apparatur, die im heutigen Zeitalter zur Verfügung steht?!
Die Hoffnung sagt : Ja! Die Angehörigen als Betroffene, als Beteiligte im Sterbeprozess!
Wie verhält es sich, wenn der Mensch im Sterbeprozess keine weiteren Nährstoffe erhält?
Die ausbleibende Zufuhr von Nährstoffen führt unwiderruflich zur Dehydration, welche sich organisch und psychisch auswirkt. Das Gehirn exsikkiert / vertrocknet, was beginnend zu Wahrnehmungsstörungen führt. Weiterhin kommt es zur Ausschüttung von Endorphinen, körpereigene Botenstoffen, die die Schmerzintensität herabsenken, ebenso wie den Bewusstseinszustand dämpfen.
Die Verabreichung eines drips – die englische Bezeichnung für Infusion - würde diesen physiologischen Prozess aussetzen. Der Zustand einer herabgesenkten Schmerzintensität, der Trübung des Bewusstseins kann auch aufgrund pharmakologischer Intervention erreicht werden. Mit einem Stufe III Opiat in Kombination mit einem Benzodiazepin, bei auftretender Unruhe indiziert / appliziert. (Total Pain Prinzip oder S3 Leitlinie für Menschen mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung.) Eine Gradwanderung von zu viel / zu wenig pharmakologischer Behandlung.
Für jede eingetretene Krise kann eine wirksame Therapie eingeleitet werden!
„The last stages of life should not be seen as defeat, (…), Death as an essential part of life an as life´s fulfilment, (…) Death is not frighening when it is near.“ (C. Saunders, Selected Writing; Introduction by David Clark: 2006)
P.S. Dieser Text steht stellvertretend für einige Beispiele, die summiert in der Praxis auftreten. Daher werden auch keine Namen benannt, ebenso wie die nähere Bezeichnung eines männlichen / weiblichen Individuums. Es sei mir entschuldigt dies zu pauschalisieren und diese Globalität als der / die JENIGE zu bezeichnen.
Anja Herzog; 04.10.2016